Von Villen zu Würfeln: Warum heutige Architektur anders tickt

Die andere Seite

In diesem Jahr verbringe ich mit meiner Familie den Sommerurlaub in Arcachon. Also auf der anderen Seite des Beckens.
Schön ist es hie: kleine Häuschen, alles sehr übersichtlich. Ein kleiner Hafen, viele Radwege – genau mein/ unser Ding.
Worunter ich mir vor unserer Anreise tatsächlich gar nichts vorstellen konnte: die „Ville d’hiver“, also der „Winterstadt“?!
Ich lese selten vorab Reiseführer oder ähnliches.

Ein kurzer Blick zurück: Die Ville d’Hiver

Die Ville d’Hiver entstand ab den 1860er Jahren auf Initiative der Brüder Émile und Isaac Pereire, zwei visionären Bankiers.
Ihr Ziel: ein sanatoriumartiges Viertel für wohlhabende Tuberkulosepatienten, das die heilende Wirkung von Meeresluft und Pinienwald kombinierte. Also für die, die es sich leisten konnten. Denn das milde, von Pinienwäldern gefilterte Meeresklima sollte ideal für die Genesung von Lungenkranken sei.
Damals war Tuberkulose weit verbreitet und gute Luft galt als wichtigste Therapie. Die Ville d’Hiver sollte eine Alternative zu alpinen Sanatorien bieten.

Die geschäftstüchtigen Brüder Pereire, die auch die Eisenbahnlinie nach Arcachon betrieben, luden Ärzte zu Kongressen ein, um die Vorzüge der Stadt zu präsentieren und Patienten zu gewinnen.
Die Ville d’Hiver wurde schnell zum Treffpunkt der europäischen Elite und zum Symbol mondäner Erholung. Kaiserin Sissi, König Alfons XII. von Spanien und der Prince of Wales sollen hier viel Zeit verbracht haben.

Mit der Zeit wandelte sich somit der Fokus von der medizinischen Nutzung hin zu einem mondänen Ferienort.
Die Architektur der Häuser in dieser Hügelgegend mit Blick über die „Ville d’été“ und das Meer vor Arcachon war bewusst fantasievoll. Schweizer Chalets, maurische Pavillons, neogotische Herrenhäuser – alles war erlaubt. Die Ville d’Hiver ist kein einheitlicher Baustil, sondern ein fantasievolles Mosaik verschiedener Stile, die zur Zeit der Belle Époque beliebt waren.

Wer lebt heute in der Ville d’Hiver?

Heute ist die Ville d’Hiver ein ruhiges, exklusives Wohnviertel:
etwa 70% der Eigentümer kommen aus dem Fernen Paris und viele nutzen die Villen als Zweitwohnsitz.
Auch einige wohlhabende Einwohner Bordeaux kommen gerne in ihre Häuser am Ozean. Die Fahrtzeit für sie beträgt immerhin auch nur eine gute Stunde.
Doch auch gut situierte Renter und Expats – z.B. aus Singapur und Dubai – sind hier anzutreffen. Sie schätzen das historische Flair und die exclusive Lage.
Zudem wurden einige Villen, die früher von nur einer Familie (auf grosszügiger Fläche) bewohnt wurden, in Eigentumswohnungen umgewandelt. So lassen sich die hohen Unterhaltskosten zumindest teilen.

Ville dhiver Arcachon_belle epoque

Der Preis der Schönheit: Instandhaltung historischer Villen

Doch so charmant die Ville d’Hiver ist, sie ist auch anspruchsvoll.
Viele Gebäude sind auf Grund ihres Baujahres denkmalgeschützt. Renovierungen sind aufwändig und kostspielig und müssen mit den „Bâtiments de France“ abgestimmt werden. Ob der Umgang mit der Denkmalbehörde in Frankreich schneller und problemloser als in Deutschland vonstatten geht? Ich weiss es nicht. Wage es allerdings zu bezweifeln…

Die Kosten für Sanierungen und den Erhalt der aufwändig gebauten Villen (die Holzverzierungen, Ornamente & Co baut man heutzutage nicht mehr) sind immens. Vermutlich ist es auch nicht einfach, Fachleute zu finden, die diese Handwerkskunst in der Form noch beherrschen? (Um-) Baukosten sollen nicht selten zwischen 1 und 3 Millionen Euro pro Villa liegen.

Und wenn dann alles saniert und erneuert ist, erfordert die Pflege von Holzverzierungen, Dächern und den nicht selten großen Gärten weiteres Fachwissen, Zeit und Geduld.

Warum bauen wir heute nicht mehr so?

Ich persönlich finde diese Art von Villenarchitektur wunderschön. SO sehen für mich Häuser aus. Okay – hier und da ein Schnörkel dürften es weniger sein, aber grundsätzlich. Vom Stil her. Genau mein Ding!


Warum also bauen wir heute nicht mehr so?

Die Gründe sind vielfältig – und oft ernüchternd:
Wie immer geht es hauptsächlich (heutzutage?) um Kosten und Effizienz. Historische Architektur ist teuer, aufwändig und damit langsam zu bauen. Und ebenso zeitintensiv (und ebenfalls kostenintensiv) in Stand zu halten und zu Warten. Funktionale Gebäude sind kostengünstiger, schneller zu bauen und leichter zu sanieren.

Unsere heutigen Normen und Vorschriften lassen in Bezug auf Brandchutz, Energieeffizienz (zumindest in Deutschland) und Barrierefreiheit wenig Spielraum für verspielte Formen.
Materialien wie Glas, Beton und Stahl ermöglichen klare Linien und flexible Raumkonzepte.

Eine Rolle spielt auch die heutige Urbanisierung: In Städten zählt jeder Quadratmeter. Unsere Städte wachsen, aber die verfügbare Fläche bleibt begrenzt.
Die heutige Vorliebe für kompakte, funktionale Gebäude im Urbanismus hat mehrere tiefgreifende Ursachen. Ökonomische, ökologische, soziale und kulturelle.
Die verspielte, grosszügige Architektur der „Ville d’Hiver“ setzte auf Repräsentation und Ästhetik. Im Gegensatz dazu steht heute Effizienz und Nachhaltigkeit im Vordergrund. Zudem ermöglichen kompakte Bauweisen mehr Wohneinheiten auf kleiner Fläche.

Warum verspielte, großzügige Formen wie in der Ville d’Hiver aus der Mode kamen ist somit leicht zusammenzufassen:

– die Häuser spiegelten eine epochetypische Ästhetik wider, die Reichtum und Individualität betonte.
– derartige Villen waren nicht für breite Bevölkerungsschichten gedacht.
– diese Art von Architektur ist nicht skalierbar für heutige urbane Herausforderungen wie Wohnraummangel oder Mobilitätswende.
– der Fokus lag auf Repräsentation, nicht auf Funktion oder Nachhaltigkeit.

Man sagt, der Wandel im Zeitgeist ist kein Verlust von Ästhetik, sondern eine Transformation ihrer Bedeutung.
Schönheit liegt heute nicht mehr in Ornamenten und Überfluss wie bei den Villen der „Ville d’Hiver“.
Sondern in Klarheit, Zweckmäßigkeit und Verantwortung.
Wie dem auch sei, mir gefällt dieser Stadtteil und ihre vielfältige, mondäne Architektur. In einem Artikel habe ich dazu gelesen, dass die „Ville d’Hiver ein faszinierendes Zeugnis einer anderen Epoche sei. Aber die Architektur von heute auf die Herausforderungen von morgen antwortet“.

Mag sein – ich bleibe jedoch dabei: für mich haben die Schnörkel und Ornamente mehr Charakter als die Betonwüsten heutzutage. Leider verstehe ich jedoch auch die Argumente hierfür.
Aber kann man trotz dieser Argumente nicht alles einfach auch in „schön(er)“ machen?

[keine Werbung – weder bezahlt noch unbezahlt noch angefragt oder beauftragt. Nur eine Empfehlung aus eigener Erfahrung und für GUT befunden]

Follow my blog with Bloglovin

Dich interessiert vielleicht auch...

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert